Was bringt die TZI für virtuelle Meetings?
Virtuelle Meetings – was kann die TZI zu ihrer Gestaltung beitragen?
„In Wirklichkeit ist Corona der Name für eine groß angelegte Digitalisierungskampagne der Bundesregierung“, pflege ich zu scherzen. Es ist schon erstaunlich wie 2020 innerhalb weniger Wochen in Schulen, Universitäten, Organisationen technisch umgesetzt wurde, was vorher jahrelang nicht möglich war. Ich selber habe gelernt, wie in Online-Meetings guter Kontakt entsteht – auch mit Menschen, die ich vorher nicht kannte.
Ich arbeite seit vielen Jahren mit virtuellen Meetings, aber meist waren das kleine Gruppen mit maximal 6 Personen und wir kannten einander bereits gut. Bereits 2015 organisierte ich gemeinsam mit der RCI-Fachgruppe Wirtschaft eine Fachtagung „interactively connected: mastering virtual team processes“. Wenn ich meine Mitschrift durchblättere, lese ich von Faszination und Misstrauen gleichzeitig.
Was nun seit Corona anders ist für mich? Ich habe verstanden, dass wir Menschen darüber entscheiden, ob Kontakt entsteht oder nicht. Die Maschinen und die Qualität der Übertragung haben einen Einfluss auf unsere Interaktion, sie sind ein relevanter Umfeldfaktor - im Jargon der Themenzentrierten Interaktion (TZI) sagen wir „Globe-Faktor“ dazu. Aber die Maschinen treffen nicht alleine die Entscheidung über die Qualität unserer Interaktionen! Der digitale Raum wird geprägt von der Technologie, unserem Bewusstsein und unserer Sprache.
Virtuelle Treffen finden unter ganz anderen Rahmenbedingungen statt, als physische Treffen. Und wir haben alle viel weniger Übung in diesen Situationen souverän miteinander zu kommunizieren und wirklich in Kontakt zu kommen: Wir kämpfen mit der Übertragungsqualität und der Technik. Unsere Sinneswahrnehmung ist eingeschränkt und dadurch der Aufbau von Vertrauen schwieriger. Es gibt viel weniger Möglichkeiten für informellen, selbstgesteuerten Kontakt. Die Leitung hat durch die Technik überraschend viel Macht. Und viele berichten von sehr produktiven Meetings, die gleichzeitig sehr anstrengend sind. Und doch habe ich erlebt und verstanden: wir Menschen können unheimlich viel dafür tun, dass wir auch virtuell gut und ganzheitlich miteinander in Kontakt kommen.
Genau an diesem Punkt ist die Themenzentrierte Interaktion meiner Meinung nach hilfreiches Instrument und Haltung, um den sozialen Prozess auch virtuell zu gestalten und zu fördern – als Teilnehmerin und in der Leitung. Wenn wir die Brillen aufsetzen, die wir immer aufsetzen, wenn wir als TZIlerInnen soziale Prozesse gestalten, dann werden unsere Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten sichtbar. Im Folgenden diskutiere ich anhand einiger ausgewählter Beobachtungen, was ich meine.
1. Wie wirkt sich das Virtuelle auf meine Selbststeuerung aus?
Wir haben in der TZI mit dem Postulat der Chairperson eine Brille, die jedes Individuum auffordert „sich selbstbestimmt, selbstverantwortlich, selbstbewusst zu verhalten und sich nicht von Idealen oder Autoritäten bestimmen zu lassen“ (Handbuch der TZI, S.95). Diese Aufforderung sich selber zu kennen, um an lebendigen Interaktionsprozessen teilnehmen zu können, erhält im virtuellen Raum ganz neue Aspekte, denn unsere Wahrnehmung von den anderen TeilnehmerInnen ist eingeschränkt: Wir sehen viel, aber nicht so wie sonst. Wir hören viel, aber nicht immer. Wir riechen nicht den gemeinsamen Raum, da es ihn nicht gibt. Wir berühren eine Tastatur. Unsere Bewegungsmöglichkeiten sind stark eingeschränkt. Was haben diese Umstände für eine Auswirkung auf meine Fähigkeit mich selber zu steuern, souverän zu verhalten, zu kommunizieren und mit Anderen in Kontakt zu treten? Welche Sinne sind bei mir besonders stark ausgeprägt und wie wirkt sich das auf meine Kontaktfähigkeit aus? Was für Eindrücke von den Anderen entstehen bei mir und wie gehe ich damit um?
Auch die eigene Situation hat sich verändert. Ich sitze in vertrauter Umgebung, an meinem Schreibtisch oder in meinem Wohnzimmer. Viele Menschen empfinden das als Schutz oder auch als Kokon. Manche verhalten sich dadurch ungezwungener, jedenfalls anders, als wenn sie mit allen in einem Raum sitzen würden. In der TZI-Sprache sagen wir dazu: „Die Chairperson muss andere Dinge können.“ Die Fragen lauten: Was brauche ich, damit ich auch virtuell umfassend arbeitsfähig bin? Wie ist es mir möglich, mich auszudrücken, eventuell auch meinen Widerstand, meine Sperrigkeit, meine Betroffenheit für die anderen erfahrbar zu machen? Was stört mich gerade und wie gehe ich damit um? Auf diese Fragen valide Antworten zu finden ist meiner Meinung nach nicht banal. Das fordert jeden und jede von uns heraus, selber zu entdecken, was wir brauchen. Das kann man nirgendwo nachlesen, das kann man nur selber erforschen und aus der gemachten Erfahrung lernen.
2. Wie geht es mir, wenn ich mich selber am Bildschirm sehe?
Ich – zum Beispiel – bin ein sehr optischer Typ. Ein großer Unterschied zwischen virtuellem und physischem Meeting sind die Bilder, die wir sehen. Wir sehen am Bildschirm die Beteiligten meist in Halbportraits und – als Novum – auch das eigene Bild. Manche empfehlen dieses Bild weg zu klicken, wenn man sich selber nicht andauernd sehen möchte. Ich mochte von Anfang an mein Spiegelbild, fand das interessant und verdächtigte mich insgeheim schon des Narzissmus. Nach einiger Zeit fand ich eine für mich passende Erklärung: Ich bin ein ebenbürtiges Mitglied dieser Versammlung von Portraitköpfen auf meinem Display und daher ist es nur logisch, dass ich mich auch sehe. Ich interpretiere diesen Umstand als konkrete Dokumentation der gemeinsamen Augenhöhe und fühle mich damit wohl. Andere interpretieren diese Situation sicherlich anders.
3. Was lösen die unterschiedlichen Bildschirm-Hintergründe aus?
Die verschiedenen Hintergründe auf den Bildschirmen bei den virtuellen Meetings haben mich auch beschäftigt. Zu Beginn war ich vor allem ob der Vielfalt verwirrt. Dann war ich eine Zeitlang ein großer Fan von gestalteten Hintergründen. Mittlerweile habe ich mich erstens an die Unterschiede gewöhnt und zweitens machen sie für mich die Realität unserer Unterschiede deutlicher. Durch Corona habe ich viele Menschen in ihrem privaten Umfeld erlebt. Ich habe Dinge gesehen, die ich nie erfahren hätte, wenn es nicht die Pandemie gegeben hätte. Das war manchmal irritierend, manchmal überraschend, oft ablenkend.
In der TZI-Sprache würden wir sagen, wir haben uns gegenseitig mit den verschiedenen Hintergründen etwas zugemutet. „Etwas von sich offenbaren“ nennt das Walter Lotz und bezeichnet das als Grundvoraussetzung, damit Vertrauen entstehen kann (Lotz, Themenzentrierte Interaktion, 2007, Heft 1, S.65). Ich bin mittlerweile der Meinung, dass die verschiedenen Bildhintergründe eine Möglichkeit sein können, um Nähe und Vertrauen entstehen zu lassen. Ich nütze das aktiv in meinen Workshops und bitte die Beteiligten mit der Kamera zu zeigen, wie ihr Umfeld aktuell ausschaut.
Wie auch immer jede und jeder von uns die Frage nach einer guten eigenen Arbeitsfähigkeit beantwortet, es ist für mich offensichtlich, dass diese Auseinandersetzung relevant ist, wenn wir qualitativ hochwertige Interaktionen auch virtuell erreichen wollen. Der virtuelle Raum verlangt von uns derzeit viel mehr Selbstverantwortung, viel mehr Chairperson, als physische Meetings. Ich bin überzeugt, dass es notwendig ist, miteinander ein Bewusstsein über die veränderten Grenzen in der Interaktion zu entwickeln. Derzeit ist ein Großteil der gemeinsamen Gespräch von technischen Fragen dominiert: „Welche Software verwendest Du?“ „Was funktioniert stabiler und wie kann ich es bedienen?“ Die Wirkung auf unsere Kommunikation, unsere Interaktionen, unsere Teamfähigkeit wird meiner Einschätzung nach noch wenig diskutiert. Hier können gelernte TZIlerInnen viel beitragen mit dieser anderen, themenzentrierten und interaktionellen Brille darauf zu schauen. Denn in der TZI-Ausbildung üben wir genau diesen Prozess, die gemachte Erfahrung so zu reflektieren, dass jeweils Erkenntnis – für uns und für die Gruppe – entsteht.
4. Welchen Einfluss hat die Technik auf die Leitung und die TeilnehmerInnen?
In der TZI haben wir ein eigenes Verständnis zu leiten. Wir sprechen von partizipierender Leitung. Ruth Cohn, die Gründerin der TZI, schreibt dazu: „Gruppenleiter sind (...) in erster Linie Teilnehmer, also Menschen mit eigenen Interessen, Vorlieben, Gedanken und Gefühlen und erst in zweiter Linie Gruppenleiter mit einer speziellen Funktion.“ (Gelebte Geschichte der Psychotherapie, 1984, S. 368) Bei virtuellen Treffen sind die Meisten, mit der Leitung Beauftragten, viel mit der Technik beschäftigt. Es gibt viele verschiedene Software-Möglichkeiten und zusätzliche technische Tools. Alle haben gemeinsam, dass eine Person darüber entscheidet, was die anderen Beteiligten tun dürfen. Alle TeilnehmerInnen können zum Beispiel von der Leitung stumm geschaltet werden. Das ist sehr praktisch, um störende Hintergrundgeräusche auszuräumen. Aber was macht das mit den TeilnehmerInnen, wenn sie stumm geschaltet werden? Bei einem physischen Meeting kannst Du die TeilnehmerInnen nicht einfach abdrehen. Diese technisch an sich vernünftige Lösung führt dazu, dass viele TeilnehmerInnen sich eher zurück halten, sich nur zu Wort melden, wenn es unbedingt notwendig ist. Unbewusst entsteht eine Stimmung, die da lautet: „Ich rede nur, wenn ich gefragt werde.“ Ist das die Stimmung, die wir im virtuellen Meeting haben wollen? Wenn es nur um Informationsweitergabe geht, dann kann das passen. Wenn ich nun aber will, dass die TeilnehmerInnen sich aktiv engagieren, was tue ich dann?
Ich habe während des Corona Lockdowns – gemeinsam mit KollegInnen – virtuelle Meetings mit und für TZIlerInnen geleitet. Am meisten Widerstand entstand in den Untergruppen, als die TeilnehmerInnen automatisch in den gemeinsamen Gruppenraum zurückgeholt wurden: „Den Zufallsgenerator, der uns zusammengewürfelt hat, lehne ich ab.“ „Es behindert mich im Denken und Verdauen.“ „Es macht mich passiv.“ „Das Medium verführt zu direktiver Leitung.“ Wir in der Leitung waren alle so mit der Technik beschäftigt gewesen, dass wir an diese Auswirkungen im Vorfeld nicht gedacht hatten. Mittlerweile kommunizieren wir die Agenda bei diesen zweistündigen Meetings vorab, blenden die Zeit ein in den Untergruppen und versuchen einander den Raum zu geben, den wir brauchen, um aktiv teilnehmen zu können. Ob das reicht, erkunden wir gerade.
Dieses Beispiel zeigt deutlich, derzeit haben wir viel Geduld mit und Aufmerksamkeit bei der Technik. Haben wir auch so viel Geduld und Aufmerksamkeit für Menschen? In vielen Calls, die ich erlebe, gibt es den Moment, wo jemand technische Schwierigkeiten hat und eine ganze Runde von Menschen wartet fünf, sechs, zehn Minuten lang, bis die Technik wieder funktioniert. Niemand beschwert sich, keiner wird ungeduldig. Und ich frage mich insgeheim oft: „Sind wir mit einem menschlichen Problem auch so geduldig, wie mit den technischen Problemen?“
5. Was fördert ein gutes Arbeitsklima im virtuellen Meeting?
Ich habe in den letzten Monaten öfter von Führungskräften gehört, dass virtuelle Meetings anstrengender sind als physische Meetings. Ich denke, dass kommt daher, dass die Technik ein leiterzentriertes Klima in der Gruppe fördert. Die Menschen lehnen sich zurück und „lassen den Chef einmal machen“. Vor allem wenn die Strukturen eher hierarchisch geprägt sind und die physischen Meetings vor Corona auch schon eher top down geleitet wurden, ist dieses Verhalten ziemlich typisch. Was aber tun, wenn aus den TeilnehmerInnen „TeilgeberInnen“ werden sollen? Also Menschen, die sich aus dem virtuellen Meeting nicht nur herausnehmen worauf sie Lust haben, sondern auch hineingeben? Damit ein gemeinsames WIR entstehen kann? Damit ein gemeinsamer Blick auf die Aufgabe, die gestemmt werden soll, möglich wird? Damit Neues entstehen kann?
Das Ziel der Arbeit mit TZI ist, dass „ein Klima der gegenseitigen Wertschätzung, die Respektierung von Verschiedenheit, eine möglichst offene Kommunikation sowie Kontakt und Begegnung unter allen Beteiligten“ entsteht. (Schneider-Landolf, Handbuch der TZI, S. 126) Die TZI-Leitung steuert diese Arbeit und alle TeilnehmerInnen steuern mit. Es trägt also nicht die Leitung alleine die Verantwortung für den Gruppenprozess. Was das für virtuelle Meetings bedeutet? Die Leitung muss versuchen, die Dominanz der Technik sichtbar zu machen, mit anderen zu teilen, die gemeinsame Reflektion des Prozesses forcieren. Alle können sich gemeinsam in der Haltung üben, den virtuellen Kommunikations- und Kontaktraum miteinander zu gestalten und zu halten. Alle sind eingeladen, einander zu zuhören, sich einzubringen, nicht „über“, sondern „von etwas“ zu reden. Auch die gemeinsame Planung entlang des 4-Faktoren-Modells – das Analyse- und Steuerungsinstrument der TZI zur Orientierung im sozialen Prozess - kann helfen, das Miteinander zu fördern. Und es gibt aus vielen anderen methodischen Ansätzen hilfreiche Instrumente, die erprobt werden können. Es geht immer darum die Frage zu stellen: Wie begegnungsoffen, wie prozessorientiert, wie inklusiv und wie partizipativ können wir unsere gemeinsame virtuelle Kommunikation gestalten?
Ein weiteres Instrument der TZI-Leitung ist die Themenformulierung. Wir meinen damit jene Formulierung, die alle Anwesenden mit ihren Erfahrungen, Wissen, Anliegen, Gefühlen anspricht und einlädt, sich am nächsten Arbeitsschritt zu beteiligen. „So kann ein lebendiger Prozess des Austauschs untereinander entstehen... (Schneider-Landolf, Handbuch der TZI, 157). Diese Kompetenz der TZI-Praktizierenden, auf Basis der Analyse des Gruppenprozesses mit Hilfe des 4-Faktoren-Modells ein anregendes Thema zu entwickeln, kann meiner Meinung nach 1:1 auch in virtuellen Meetings eingesetzt werden.
Ich experimentiere derzeit in meinen virtuellen Meetings mit Spielregeln – in Analogie zu den Hilfsregeln von Ruth Cohn. Ich stelle sie jeweils zu Beginn der Session vor. Hier die vier Punkte, die ich zum Thema Leitung formuliert habe:
- Ich schenke Euch meine ungeteilte Aufmerksamkeit und verbinde mich mit Euch – denn wir leiten miteinander.
- Ich sorge für mich und für uns im Hier und Jetzt.
- Ich melde eine Störung schnell an, um unser aller Stress zu reduzieren.
- Leitung (Planung, Technik, Moderation, Organisation, Protokoll) sind Rollen, die auch ich einmal einnehmen kann.
Meine Erfahrungen bisher sind eher positiv. Und noch eine Beobachtung mache ich: wenn man miteinander verbunden ist, dann ist es auch lange nicht so anstrengend.
Wir sind alle Pioniere
Diese Beispiele zeigen für mich vor allem eines: Wir sind alle Pioniere in der digitalen Kommunikation. Es geht nicht darum, digitale Kommunikation der analogen, physischen Kommunikation und Interaktion möglichst ähnlich zu machen. Digitale Kommunikation hat eigene Regeln. Gemeinsam erforschen wir diese gerade. Ich teile – bei heutigem Wissensstand – nicht die Thesen des Philosophen Byung-Chul Han, der der digitalen Kommunikation grundsätzlich die Fähigkeit zur Gemeinschaftsbildung abspricht. Nachdenklicher machen mich z.B. Erkenntnisse aus der Hirnforschung, die zeigen, dass die Rezeption des Bildschirmes im menschlichen Gehirn in der Nähe des Suchtzentrums stattfindet. Könnte es sein, dass ich mich dann in Zukunft mit Menschen lieber virtuell treffe, weil mein Suchtzentrum dann belohnt wird?
Ich sehe reale Gefahren (wie z.B. den Ausschluss von Menschen, die nicht über einen Zugang zur Technik verfügen), viele Chancen (wie z.B. die Einbindung von TeilnehmerInnen, die räumlich weit weg sind) und das Faktum, dass wir in Zukunft sicherlich mehr virtuell kommunizieren müssen. Und ich bin mir sicher, dass wir Menschen einen großen Gestaltungsspielraum dabei haben – und die TZI uns dabei gut unterstützt ihn zu nützen.